1866 – 1870 Exil in Tribschen
Nach seiner Ausweisung aus München im Dezember 1865 zog Wagner zurück in die Schweiz. Die ersten Monate seines erneuten Exils verbrachte er in Genf, wo er das Landhaus „Les Artichauts“ in der Nähe des Jardin des Cropettes mietete.
Anfang März 1866 kam Cosima von Bülow zu Wagner und machte sich mit ihm gemeinsam auf die Suche nach einem neuen Domizil. Sie fanden auf einer kleinen Landzunge bei Luzern das leerstehende Landhaus Tribschen während einer Fahrt über den Vierwaldstätter See. Der Besitzer Oberstleutnant Walter Ludwig am Rhyn vermietet das Haus mit dem es umgebenden Park und einem zugehörigen kleineren Bauernhaus an Wagner, die Jahresmiete wurde von Ludwig II. aus München überwiesen. Am 15. April 1866 zog Wagner in das Tribschener Haus ein. „Wohin ich mich aus meinem Haus wende, bin ich von einer wahren Wunderwelt umgeben: ich kenne keinen schöneren Ort auf dieser Welt, keinen heimischeren als diesen“, schrieb Wagner an Ludwig II. Wagner blieb hier sechs Jahre, bis zum April 1872 wohnen.
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Cosima von Bülow (1865) |
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Richard Wagner in Tribschen (1867, Photo von Jules Bonnet) |
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Haus Wagner in Tribschen |
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Tribschen am Vierwandstädter See
mit Pilatus und Wagner-Haus |
Cosima zieht nach Tribschen
Im Mai 1866 kam Cosima mit ihren drei Töchtern nach Tribschen, konnte zunächst aber nicht dauerhaft bei Wagner bleiben. Dessen Frau Minna war im Januar 1866 in Dresden verstorben. Wagner erhielt die Nachricht von ihrem Tod erst mit zwei Tagen Verspätung und konnte daher nicht mehr zur Beerdigung anreisen. Cosima war aber noch mit Hans von Bülow verheiratet und nicht zuletzt mit Rücksicht auf König Ludwig II. blieb das Verhältnis lange geheim. Die ersten Jahre lebte Cosima in Tribschen „vor der Welt verborgen“ (so in ihren Tagebüchern) in eigenen Räumen, häufig ohne die beiden Töchter aus ihrer Ehe mit von Bülow.
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Richard Wagner mit seiner
Tochter Eva in Tribschen (1867) |
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Im Februar 1867 wurde Wagners und Cosimas zweite gemeinsame Tochter Eva in Tribschen geboren, doch erst im November 1868 zog Cosima endgültig bei Wagner ein. Nach der Geburt des Sohnes Siegfried im Juni 1869 willigte Hans von Bülow in eine Scheidung ein und überließ Cosima jetzt auch die gemeinsamen Kinder. Am 25. August 1870 heirateten Richard und Cosima in Luzerns evangelischer Kirche St. Matthäus. Anwesend waren nur die beiden Trauzeugen, die Schriftstellerin Malwida von Meysenbug und Hans Richter, der spätere Dirigent der Bayreuther Uraufführung des „Ring des Nibelungen“. Richter lebte bereits seit Oktober 1866 in Wagners Haushalt. Er diente Wagner als musikalischer Sekretär, fertigte Kopien der neu entstandenen Partituren an und überwachte die Drucklegung.
Das Haus in Tribschen wurde schnell zum Treffpunkt für Wagners großen Freundeskreis. Einer der ersten Besucher war Ludwig II., der zu Wagners Geburtstag am 22. Mai 1866 verkleidet als Walther von Stolzing (aus den „Meistersingern von Nürnberg“) kam. Die Reise Ludwigs II. nach Tribschen, unmittelbar vor Beginn des deutschen Einigungskrieges, löste in München Befremden aus und führte zu einem Skandal. Wenig später machten bayerische Zeitungen die Beziehung von Wagner und Cosima von Bülow öffentlich. Zu den Gästen in Tribschen zählten außerdem die alten Freunde Franz Liszt (der Wagners Verbindung mit seiner Tochter Cosima lange nicht billigte und von der Hochzeit nur aus der Zeitung erfahren hatte) und Gottfried Semper, der in Zürich tätig war. Semper arbeitete im Züricher Polytechnikum an dem Model des von Ludwig II. bestellten "Nibelungentheaters" für München, das er schließlich am 2. Januar 1867 nach München verschickte. In Tribschen traf Wagner auch erstmals die französische Schönheit Judith Gautier und ihren Mann Catulle Mendès.
Friedrich Nietzsche
Ab Juni 1869 war Friedrich Nietzsche häufig zu Gast in Tribschen, der zu dieser Zeit außerordentlicher Professor der klassischen Philologie an der Universität Basel war. Wagner und Nietzsche waren sich im Vorjahr in Leipzig das erste Mal begegnet – der Beginn einer „Sternenfreundschaft“, wie Nietzsche es in „Die fröhliche Wissenschaft“ formulierte. Nach Tribschen kam Nietzsche in den folgenden drei Jahren insgesamt 23 Mal, für Cosima erledigte er unterwegs Besorgungen. Wagner war von dem 31 Jahre jüngeren Verehrer angetan, 1872 resümierte er: „Genau genommen sind Sie, nach meiner Frau, der einzige Gewinn, den mir das Leben zugeführt.“ Später löste sich die von Anfang an fragile und mit Erwartungen aufgeladene Freundschaft Wagners mit Nietzsche und schlug in scharfe Kritik um.
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Friedrich Nietzsche (1869) |
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Friedrich Nietzsche: "Die Geburt der Tragödie
aus dem Geiste der Musik" (1869) |
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Judith Gautier,
französische Schriftstellerin |
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Richard Wagner (1861) in Paris |
In Tribschen war Wagner erneut schriftstellerisch tätig, dazu gehörten neben einer Artikelserie in der „Süddeutschen Presse“ über „Deutsche Kunst und deutsche Politik“ (die auf Befehl König Ludwigs II. nach der 13. Folge wegen ihrer politischen Brisanz abgebrochen werden musste) auch kleinere Aufsätze „Über das Dirigieren“ (1869), „Beethoven“ (1870) und „Über die Bestimmung der Oper“ (1871).
Nebenher begann Wagner für König Ludwig II. seine Autobiografie unter dem Titel „Mein Leben“ an Cosima zu diktieren, die dann eine Reinschrift anfertigte.
In Tribschen entstand auch die Neupublikation von "Das Judentum in der Musik". Wagner begann sich kurz nach dem Einzug Cosimas erneut mit dieser Schrift zu beschäftigen, die er 1850 noch anonym veröffentlicht hatte. Bereits am 3. Januar 1869 waren die Überarbeitung und Ergänzung des Textes fertig. Cosima war auch in dieser Angelegenheit seine Vertraute. Am 9. Januar notierte sie in ihr Tagebuch:
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Das Judenthum in der Musik. Neuauflage
von 1869, die Wagner unter seinem
eigenem Namen publizierte |
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Marie Kalergis-Muchanow, Adressatin der Neuauflage von 1869 |
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"Zu Mittag besprach Richard mit mir die Opportunität der augenblicklichen Publikation des Juden-Aufsatzes, ich sagte ihm, ich sei unfähig ihm das mindeste hierüber sagen zu können, denn wenn man mir sagte: es bringt ihm die größten Widerwärtigkeiten ein, oder es wird gänzlich ignoriert oder es macht eine gute Wirkung, ich würde alles glauben".
Zwei Tage später hieß es dann:
"Er hat den Judenaufsatz abgeschickt, was mich mit Bangigkeit erfüllt, was ich aber doch nicht verhindern kann".
Die Neufassung des "Judentums"-Textes veröffentlichte Wagner unter seinem eigenen Namen in der Form eines offenen Briefes an Marie Muchanoff, einer polnischen Pianisten, mit der Wagner in seiner Pariser Zeit eng befreundet war. Zudem war er ihr gegenüber zu Dank verpflichtet, denn Marie Muchanoff hatte ihm 1860 in Paris 10.000 Franc zukommen lassen. Kurz darauf war Marie Muchanoff durch ihre guten Beziehungen zum sächsischen Gesandten in Paris dafür verantwortlich, dass Wagner im Sommer eine Teilamnestie der sächsischer Regierung gewährt wurde. Später heiratete Muchanoff den Intendanten des Kaiserlichen Theaters in Warschau, wohin ihr Wagner seinen Aufsatz zuschickte.
In der Neupublikation wurde zunächst der alte Aufsatz von 1850 nahezu unverändert wiedergegeben, doch im neu verfassten Nachwort fanden sich entscheidende Verschärfungen. Wagner konstruierte die Wahnvorstellung einer jüdischen Musikverschwörung gegen seine Kunst. Hinter seinen Misserfolgen als Künstler sah Wagner das heimliche Wirkung von Juden. Ein Gegner, den er dabei namentlich benannte, war der Wiener Musikkritiker Eduard Hanslick, dem Verfasser der einflussreichen Schrift "Vom Musikalisch-Schönen". Wagner diffamierte Hanslick als den Vertreter eines "Musikjudentums", welches das gesamte europäische Musikleben bereits unterwandert habe. Am radikalsten ist eine Formulierung Wagners am Ende seines Aufsatzes:
"Denn über Eines bin ich mir klar: so wie der Einfluß, welchen die Juden auf unser geistiges Leben gewonnen haben, und wie er sich in der Ablenkung und Fälschung unserer höchsten Kulturtendenzen kundgibt, nicht eine bloßer, etwa nur physiologischer Zufall ist, so muß er auch als unleugbar und entscheidend anerkannt werden. Ob der Verfall unserer Kultur durch eine gewaltsame Auswerfung des zersetzenden fremden Elementes aufgehalten werden könne, vermag ich nicht zu beurteilen, weil hierzu andere Kräfte gehören müßten, deren Vorhandsein mir unbekannt ist".
Was durch Wagner an dieser Stelle erstmals ins Auge gefasst wurde, war die Möglichkeit einer gewaltsamen Vertreibung aller Juden.
Wiederaufnahme der Arbeit am „Ring“
Vor allem aber befasste sich Wagner intensiv mit seinen Kompositionen. In Tribschen konnte er endlich die „Meistersinger von Nürnberg“ vollenden, die 1868 in München uraufgeführt wurden. Im März 1869 nahm er nach zwölfjähriger Unterbrechung seine Arbeiten am „Ring des Nibelungen“ wieder auf. Noch vor der Vollendung des „Siegfried“, den er zurückstellte, da er befürchtete Ludwig II. würde ihn ebenso wie bereits das „Rheingold“ (September 1869) und die „Walküre“ (Juni 1870) gegen seinen Willen in München uraufführen lassen, begann er mit der „Götterdämmerung“.
Nicht zuletzt die Erfahrung der aus seiner Sicht misslungenen Münchener Uraufführungen der ersten Teile des „Rings“ mochten Wagner dazu veranlasst haben, sich erneut intensiv auf die Suche nach einem für sein eigenes Festspielhaus geeigneten Ort zu machen. 1871 wurde er fündig, 1872 zog die Familie nach Bayreuth.
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